Seit vielen Jahren beschäftige ich mich inzwischen mit dem Thema Auswandern und freue mich immer, von anderen zu lernen, die den mutigen Schritt bereits gewagt haben, ihre Lebensmitte an einen neuen Ort zu verlagern. Heute habe ich das Vergnügen, mein spannendes Interview mit Ve zu teilen, die seit Jahren gelegentlich als Autorin für diesen Blog tätig war. Nachdem sie bereits von Bonn nach Berlin gezogen ist, hat sie sich nun für einen Neuanfang in Norwegen entschieden.
In diesem Interview teilt Ve (32) ihre Erfahrungen und Herausforderungen beim Auswandern nach Norwegen, inklusive der kulturellen Unterschiede, die sie und ihre Lebensgefährtin dort erlebt haben. Ihre Entscheidung, im hohen Norden einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, finde ich beeindruckend. Ihre Erlebnisse sind nicht nur inspirierend, sondern bieten auch praktische Tipps für alle, die darüber nachdenken, ihr Leben ebenfalls in einem anderen Land zu beginnen.
1. Wie kam es dazu, dass du vom urbanen Leben in Berlin ins skandinavische Landleben nach Norwegen gewechselt bist?
Ve: „Kurz gesagt, hatte ich schon seit vielen Jahren den Wunsch in den Norden zu ziehen, teils unbewusst. Weil ich in meinem letzten Job keine Perspektive mehr sah und dort raus wollte, haben meine Freundin und ich die Gunst der Situation genutzt und den Schritt gewagt.
Doch ich muss auch sagen, dass das leichter klingt, als es für mich war. Ich hatte vor so einem Schritt immer großen Respekt. Ich bin ein sicherheitsliebender Mensch und verlasse nur ungern meine vertraute Umgebung. Zu Schulzeiten wollte ich nicht einmal einen Schüleraustausch machen, nur um das Maß mal zu verdeutlichen.
Den letzten kleinen Motivationsschub nach Norwegen zu ziehen, gab mir folgender Gedanke: Wenn ich so alt werden würde wie meine Mama, dann hätte ich nur noch 23 Jahre zu leben. Was will ich in diesen 23 Jahren machen? Andere denken da vielleicht an Kinder, einen anderen Job ergreifen, viele Länder bereisen. Meine Antwort war ganz simpel: Ich will mal im Norden leben.“
2. Warum hast du dich für den Raum Trondheim in Norwegen entschieden? Und wie lebst du jetzt dort?
Ve: „Wir leben auf dem Land in einem kleinen Ort, nach Trondheim sind es etwa 1 Stunde 20 mit dem Auto. Als Introverierte habe ich erst während Corona gemerkt, wie gut mir viel Ruhe tut und wie mich das Leben in der Stadt oft überfordert. Damit ist auch mein Bedürfnis nach mehr Natur gewachsen. Meine Freundin hat es schon länger raus aus der Stadt gezogen, daher war es uns wichtig in ein ländliches Umfeld zu ziehen.
Hier haben wir ein „halbes“ Haus gemietet, es ist ein klassisches Holzhaus, welches vertikal geteilt ist. Der kleine Ort in dem wir leben, liegt etwas höher und ist von Wald, Seen und Wiesen umgeben. So brauche ich nur 10–15 Minuten zu Fuß, um in den nächsten See zu hüpfen – das ist genau der Luxus, von dem ich die letzten Jahre geträumt habe.“
3. Wie hast du den Schritt vollzogen? Hast du dich vollständig aus Deutschland abgemeldet? Was machst du beruflich?
Ve: „Vorerst bin ich weiterhin in Deutschland gemeldet und habe hier in Norwegen den Registrierungsprozess angestoßen. Da Norwegen nicht zur EU gehört, können wir nicht einfach unbegrenzt hier bleiben, sondern müssen uns hier registrieren und eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.
Einen Job habe ich noch nicht und lebe aktuell von Erspartem. Ich bin recht flexibel und möchte gerne auch mal etwas ganz Neues ausprobieren. Fürs Erste werde ich voraussichtlich einen Job machen, für den meine noch geringen Norwegisch-Kenntnisse (ca. A2) ausreichen. Meine Freundin arbeitet weiterhin remote für ein deutsches Unternehmen.
Langfristig würde ich gerne einen Teil festangestellt und einen Teil freiberuflich arbeiten, aber das sind Zukunftsträume.“
4. Wie sieht dein jetziger Alltag in Norwegen aus?
Ve: „So viel ruhiger als zuvor, wobei es durch unseren Hunde-Zuwachs jetzt wieder etwas turbulenter zugeht. Morgens beginne ich den Tag mit einem Kaffee auf der Veranda, tagsüber verbringe ich viel Zeit mit Norwegisch lernen. Abends kochen wir, erledigen den Haushalt, schauen gerne Filme, gehen raus.
Mit dem Sommer sind die Tage hier nun sehr lang und so brechen wir ab und zu auch erst um 21 Uhr oder später auf, um noch einmal spazieren oder an einen See zu gehen.
Soviel anders ist unser Alltag nicht, es ist ja kein endloser Urlaub. Dennoch greife ich viel häufiger wieder zur Kamera und mir fällt es leichter, rauszugehen, weswegen ich mich jetzt deutlich mehr bewege als noch in Berlin.“
5. Wie planst du deine Zukunft? Wie ist deine Sichtweise auf deine Lebensplanung und -gestaltung?
Ve: „Ehrlicherweise habe ich keine konkrete Vorstellung. Ich freue mich einfach sehr, endlich die Landschaft vor der Haustür zu haben, nach der ich mich in Deutschland immer gesehnt habe.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind noch viele Dinge ungewiss, schon allein die Tatsache, ob wir die Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Oder vielleicht finde ich es nach einem Jahr hier dann doch nicht mehr so toll? Kann ich mir zwar absolut nicht vorstellen, aber manchmal kommt es auch ganz anders als man denkt.
Ich versuche mir den Kopf nicht allzu sehr zu zerbrechen und sehe es in erster Linie als Experiment.“
6. Gibt es kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und Norwegen? Und wie gehst du damit um?
Ve: „Definitiv, die gibt es. Als erstes fällt mir ein, dass die Norweger*innen viel privater leben. Hier schert man sich deutlich weniger darum, was der Nachbar macht. Uns fällt sehr auf, dass man auf der Straße viel weniger angestarrt wird, was ich persönlich sehr angenehm finde. Von vielen Einwander*innen habe ich gehört, dass es schwer ist, Anschluss zu finden, das kann ich noch nicht bewerten. Wird mir als Introvertierte erfahrungsgemäß aber auch weniger schnell negativ auffallen.
Außerdem fällt mir auf, dass hier Freiwilligen-Arbeit viel verbreiteter ist. Selbst im nächstgrößeren Ort hier (der immer noch recht klein ist) gibt es ein Freiwilligen-Zentrum, das kenne ich aus Deutschland so nicht. Es ist auch viel verbreiteter, viel Zeit in der Natur mit Wandern, Crosscountry-Ski und anderen Outdoor-Aktivitäten zu verbringen – dafür gibts sogar einen Begriff: friluftsliv.
Aber natürlich gibt’s noch jede Menge mehr, das ist ein umfassendes Thema und vieles werden wir auch erst im Laufe der Zeit merken.“
7. Wie blickst du aus der Ferne auf Deutschland? Was stört dich und was vermisst du?
Ve: „Schon als ich das erste Mal in den Norden gereist bin, hatte ich augenblicklich ein Gefühl von „Zuhause“ – so als würde ich hierher gehören, auch wenn das kitschig klingt. Insofern ist es gar nicht so, dass ich Deutschland nicht mag, ich fühle mich im Norden nur sehr wohl.
Deutschland kommt mir nach den ersten Monaten hier in Norwegen wahnsinnig voll und hektisch vor. Ich war gerade erst meine Familie besuchen und obwohl sie auf dem Land lebt, habe ich es selbst dort so empfunden.
Ich vermisse tatsächlich kaum etwas. Meine Freunde und Familie natürlich! Allerdings hatte ich diese schon in den letzten Jahren kaum in der selben Stadt. Mit meinen zwei besten Freundinnen führe ich z.B. schon seit über 5 Jahren eine Fernfreundschaft, daher fühlt es sich für mich nicht wirklich anders an.
Aber was ich auch vermisse: Richtig gute Donuts! Gibt’s hier sicherlich auch in den Städten, aber dort bin ich bisher nicht unterwegs gewesen. Vielleicht lerne ich einfach, selbst welche zu backen.“
8. Hat sich deine Lebensweise oder deine beruflichen und persönlichen Interessen seit deinem Umzug nach Norwegen verändert?
Ve: „Ich bin so viel ruhiger geworden. Auch wenn ich das erwartet habe, hat mich das Ausmaß überrascht. Ich fühle mich wieder kreativer und nehme meine Kamera meist mehrmals die Woche in die Hand – das hat mir sehr gefehlt! Ich merke, dass mir materielle Dinge noch unwichtiger geworden sind und ich hier viel weniger dazu neige, mir Dinge kaufen zu wollen.
Eine Veränderung, die ich auch begrüße: Ich muss mich viel weniger zwingen, nochmal rauszugehen, um Bewegung zu bekommen.
In Berlin brauchte ich immer eine extra große Portion Motivation für meinen Schweinehund – hier rennt er nahezu selbstständig zur Tür raus.“
9. Hast du Tipps für Menschen, die ins Ausland ziehen wollen?
Ve: „Auf jeden Fall, ich habe drei Tipps:
- Geldpolster anlegen! Spare dir ein Geldpolster an, besonders wenn man erst einmal keinen Job hat. Doch auch mit Job: Ein Umzug ins Ausland kostet. Entweder muss man für den Transport der eigenen Sachen oder eben für neue Dinge zahlen. Will man nach Norwegen das eigene Auto auf Dauer mitnehmen, muss man Zoll dafür zahlen. In den meisten Fällen ist es günstiger, direkt ein neues Auto in Norwegen zu kaufen. Solche Dinge sollte man im Hinterkopf haben.
- Sprache lernen! Beginne mit dem Lernen der Sprache schon in deinem Heimatland, so früh wie möglich. Rückblickend hätte ich gerne noch früher angefangen.
- Unsicherheit akzeptieren! Sei dir bewusst, dass vieles unsicher und in der Schwebe sein wird, vermutlich über einen langen Zeitraum. Vieles kannst du nicht vorbereiten und wirst erst im Prozess merken, was du brauchst und wie es funktioniert.“
10. Worauf gilt es zu achten, wenn man nach Norwegen auswandert? Was muss man wissen?
Ve: „Viele gehen davon aus, dass man in Norwegen gut „nur mit Englisch“ leben kann, weil hier alle so gut Englisch sprechen. Allerdings ist Norwegisch für einen Job absolut essentiell. Natürlich gibt es auch Jobs, bei denen Norwegisch keine Voraussetzung ist, aber das ist die Minderheit. Und auch in die Gesellschaft kommt man nur mit Norwegisch gut rein.
Da in Norwegen vieles zumindest einen Ticken teurer ist als in Deutschland, empfehle ich, sich vor dem Umzug mit dem eigenen Lebensstil auseinanderzusetzen: Was gebe ich im Alltag aus? Was kostet meine Freizeit, gehe ich z.B. viel in Restaurants, ins Kino, feiern? Bin ich dafür finanziell entsprechend aufgestellt oder bin ich bereit, meinen Lebensstil anzupassen? In Berlin haben wir recht oft Essen bestellt, ich bin gerne in Cafés gegangen, zeitweise mehrmals die Woche. Das steht hier momentan nicht mehr zur Debatte – fehlt uns aber ehrlich gesagt auch kein bisschen.“
11. Wie hat der Umzug nach Trondheim mit deiner Freundin dein Leben und das Wegziehen aus Deutschland beeinflusst?
Ve: „Lustigerweise werde ich immer wieder gefragt, wer von uns beiden in den Norden wollte – wir beide. Wäre ich allein gewesen, hätte ich vermutlich Finnland zuerst eine Chance gegeben, weil ich dort besser vernetzt bin und eine andere Verbindung zum Land habe. Aber Norwegen liebe ich auch sehr und bin happy mit der Entscheidung, hierher zu ziehen.
Spontan würde ich sagen, dass sich die Gestaltung unserer Freizeit vor allem verändert hat: In Berlin haben wir zuletzt unsere Feierabende meist auf dem Sofa verbracht, meist mit Serie oder Film – wir sind beide introvertiert und hatten nach einem Arbeitstag keine Lust, uns noch ins Berliner Leben zu stürzen.
Daher ist es schön, dass wir hier nun ganz andere Möglichkeiten haben, unsere Zeit zu verbringen. Hier gehen wir abends einfach nochmal in den Wald runter an den Fluss.
Und wir sind beide zufriedener und ausgeglichener.“
Vielen Dank, liebe Ve, für diese spannenden Einblicke in dein neues Leben in Norwegen und die Erfahrungen, die du gemacht hast. Wenn du Ve auf ihrem Abenteuer begleiten möchtest, kannst du ihr auf ihrem Instagram-Kanal folgen und viele weitere Tipps bekommen.
Alle Fotos © Ve Wolff
Sehr spanend…danke für das Interview! ?
Das finde ich auch, von diesen Lebenswegen wird es hier bald noch mehr geben! :)
Liebe Grüße und Danke für deinen Kommentar!
Ute
Eine Bekannte hat zwei Jahre intensiv Norwegisch gelernt, sich dann einen Job( Sie ist Röntgen Ärztin) gesucht in Tromsœ , eine Wohnung gekauft und lebt seid 5 Jahren dort . Sie ist sehr glücklich über ihre Entscheidung!