Zuletzt aktualisiert am 29. Mai 2018
Sonntagmorgen, 5 Uhr. Schon wieder viel zu früh aufgewacht. Zu viele Dinge zermartern mir das Hirn und haben nicht den Anstand, mit ihrem Vordringen bis zu einer menschenwürdigen Aufwachzeit zu warten. Ich starre an die Decke. In 100 Tagen werde ich ohne Job, Wohnung und Einkommen sein. Die Zeit drängt, aber irgendwie komme ich nicht vorwärts. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem ich endlich frei sein werde – aber mein Gewissen scheint da völlig anderer Meinung zu sein.
Wie an so vielen anderen frühen Morgen überbrücke ich die Zeit mit Fernsehen. Ein Wissenschaftler philosophiert in einer Sendung über typisch deutsche Eigenschaften über die »German Angst«: Möglicherweise ist unser kollektives Unterbewusstsein geprägt durch den 30-jährigen Krieg – der größten Menschheitskatastrophe aller Zeiten – in der 1/3 der teutonischen Bevölkerung durch Gewalt gestorben ist. Nach dieser Theorie hat sich also diese Angst vor lauernden Gefahren bis heute in uns manifestiert. Dieses übertriebene Sicherheits-Denken hat auch mich im Griff, wie ich feststellen muss. Das heißt, eigentlich weniger mich selbst als meine Gedanken, die mir in der Summe an einem entspannten Wochenende wie diesem gehörig die Laune verderben können.
Der innere Dialog
7 Uhr. Mein Hund macht Druck, er will raus. Ich schäle mich aus dem Bett und suche nach meinen Klamotten, die noch im Trockner liegen. »Wie machst du das eigentlich bald mit der Wäsche, wenn du keine Waschmaschine mehr hast?« fragt das Gewissen. Ich schalte den Knopf der Espresso-Maschine ein und stelle Glas und Milch bereit. »Bald wirst du dir deinen Latte Macchiato immer kaufen müssen, jedes Mal 2-3 Euro sind auf Dauer ganz schön kostspielig.« Bevor ich die Wohnung mit Kaffee, Hund und Leine verlasse, binde ich mir die Schnürsenkel meiner Sneaker zu. »Du weißt schon, dass du in Zukunft nur noch zwei bis drei Paar Schuhe zur Auswahl haben wirst?
Auf dem Weg zum Rhein fahre ich durch die 30er Zone des Kölner Nobelviertels. »Wärst du damals mit dem Daniel zusammen geblieben, würdest du jetzt auch in einem schicken Flachdach-Bungalow mit zwei süßen Kindern leben und es würde dir an nichts fehlen.« Na ja, außer dass ich damit leben müsste, dass der liebe Daniel zu viel säuft und fremd geht, mag das vielleicht stimmen. Und wer sagt eigentlich, dass mich das glücklich gemacht hätte? Mit diesen Gedanken parke ich auf dem Parkplatz des Langeler Strandbads. Mein Hund verabschiedet sich für die nächste halbe Stunde und verschwindet im Wald.
Während ich am Rheinufer entlang spaziere, packt mein Gewissen die Gelegenheit beim Schopfe, mich mit Fragen und Bedenken zu konfrontieren. »Wann willst du endlich damit anfangen, deine ganzen Klamotten zu verkaufen? Das kann doch in der Kürze der Zeit gar nicht mehr funktionieren. Und deine Wohnung, warum hast du sie noch nicht inseriert? Die Frist zur Kündigung läuft in wenigen Tagen ab. Vielleicht behältst du sie ja auch noch für ein paar Monate und vermietest sie unter? Das wäre jedenfalls sicherer. Das Auto zu verkaufen wäre auch nicht sinnvoll, so eins bekommst du für den Preis nicht wieder. Und was ist mit den ganzen Versicherungen?«
Auf dem Rückweg halte ich an einem Kiosk. Ich kaufe mir einen Kaffee und ein Marzipan-Croissant. »Wenn du noch fetter wirst, bekommst du nie mehr einen Mann ab.« Erstens bin ich nicht fett und zweitens könnte ich mit einem Typen, der Frauen nach Körpergewicht bewertet, ohnehin nichts anfangen. Als ich das Geld auf die Theke lege, fällt mir der Titel des Kölner Express ins Auge. Der 79-jährige Udo Jürgens findet die deutsche Jugend zu spießig. Irgendwie hat er Recht, denke ich mir. Wir trauen uns heute irgendwie nichts mehr und verlieren uns im Mainstream irgendwo zwischen Ikea, Zara und H&M.
Wieder zu Hause angekommen, setze ich mich ans Laptop. Das Trackpad spinnt. »Bald wirst du dir nicht mehr einfach ein neues Laptop kaufen können, wenn du kein Geld mehr verdienst. Und was dann?« Ich setze mich an den Schreibtisch und schalte den Mac ein. »Du weißt schon, dass du das fette Ding nicht mitnehmen kannst?« Auf der Suche nach Informationen zu einem Reiseland stehe ich vor meinem Bücherregal. »Tja Ute, bald wirst du nicht mehr einfach ein Buch aus dem Regal holen können.«
Ein paar Stunden später lege ich mich wieder ins Bett. Ich hatte sie fast vergessen, die Magenschmerzen. »Hast du dir eigentlich mal überlegt, zu welchem Arzt du in Zukunft gehen wirst? Und was machst du, wenn du krank wirst? Ach ja, Thema Krankenversicherung: 400 Euro monatlich wirst du dir weiterhin wohl kaum leisten können.« Während ich so da liege, scheinen mich zehn analoge Kamera-Augen aus dem Regal anzustarren. »Uns wirst du auch nicht mitnehmen können, ist dir das eigentlich bewusst? Vielleicht eine oder zwei, aber was ist mit dem Rest?«
All diese Zweifel liegen am Abend schwer auf meinen Schultern. Ich lasse Wasser in die Badewanne ein und leere die Flasche des Orange-Toffee-Badezusatzes. »Von einer Badewanne wirst du bald nur noch träumen können.« Gleich kommt der Tatort. Wenigstens kann ich auch mit defektem Trackpad Fernsehen gucken. »Wie machst du das eigentlich mit dem Internet unterwegs? Glaubst du wirklich, dass du damit klar kommst, wenn du nicht ständig darauf zurückgreifen kannst?«
Heute ist frühes Schlafengehen angesagt. Das Murmeltier wird es sich nicht nehmen lassen, mich auch morgen wieder zu begrüßen…
Ich habe einen Traum
Seit vielen Jahren sehne ich mich nach Freiheit. Nicht mehr in einem Konstrukt aus festen Arbeitszeiten und sich daran anpassender Freizeit gefangen zu sein. Mein Gewissen hat mich bis vor ein paar Monaten immer daran gehindert, diesen Traum in die Tat umzusetzen. Zu viele Dinge sprachen offensichtlich eindeutig dagegen. Wir wachsen in Deutschland schließlich auch nicht mit der Ideologie auf, unsere Träume zu leben, sondern es geht in erster Linie darum, Geld zu verdienen und stets sicherzustellen, bis ans Lebensende finanziell abgesichert zu sein. Aber ich habe nur ein Leben und wer weiß, wann es zu Ende ist.
Mein Gewissen und ich, wir haben uns irgendwie auseinandergelebt. Es wünscht sich ein geordnetes Leben mit der ständigen Gewissheit, am Ende eines Monats eine gewisse Summe Geld auf dem Konto zu haben. Ich wiederum träume vom Reisen, und das ohne diesen lästigen Ballast zu Hause. Warum das Gewissen meinen Traum scheinbar nicht akzeptieren möchte und warum es mir nicht das Vertrauen schenkt, das ich eigentlich verdient hätte, weiß ich nicht. Wieso es zwangsläufig bergab gehen sollte und warum es mir ständig die große Gefahr des sozialen Abstiegs vermittelt, kann ich ebenso wenig nachvollziehen. Vielleicht sind es tatsächlich die Teutonen, die mein kollektives Unterbewusstsein beeinflusst haben und meine Träume zunichte machen sollen.
Aber eins weiß ich ganz sicher: Wenn sich eine Tür schließt, geht eine andere wieder auf. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass eigentlich alles geht, wenn man nur will. Und das wird in den nächsten 100 Tagen hoffentlich auch mein Gewissen kapieren!