Aussteigen

Aussteigen – Wie 10 Jahre Freiheit das Leben verändern

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Aus dem Hamsterrad zu mehr Sinn im Leben - 10 Jahre Freiheit - Ute Kranz Bravebird

Unglaublich, wie die Zeit vergeht! Vor genau zehn Jahren öffnete ich die Tür meines goldenen Käfigs und flog hinaus in die Freiheit. Wohnung und Job gekündigt, den Großteil meines Besitzes verkauft, die restlichen Siebensachen eingelagert und nun konnte es endlich losgehen. Die lang ersehnte Weltreise wartete auf mich. Über ein Jahr lang war ich unterwegs und habe dabei vor allem eins gelernt: ich muss nicht (mehr) hetzen!

Mein Reisetempo verlangsamte sich immer mehr und irgendwann blieb ich einen Monat am selben Ort, danach drei Monate an einem anderen. Die nächste Erkenntnis kam schleichend und dennoch überraschend: Trotz meiner riesigen Abenteuerlust war ich für das Langzeitreisen nicht gemacht. Also kehrte ich nach Deutschland zurück; neben meinen beiden Rucksäcken war ein Hund im Gepäck, den mir der Zufall in Mexiko vor die Füße gelegt hatte.

Während der Weltreise habe ich dann noch parallel zwei Rucksäcke in Vietnam mitentwickelt. Und nur eine Woche nach meiner Rückkehr lernte ich in Deutschland einen Mann kennen, Bingo. Als spirituelle Influencerin hätte ich spätestens jetzt die Gelegenheit genutzt, das große Märchen von der erfolgreichen „Manifestation“ meines glücklichen Lebens zu erzählen. Aber es würde anders ausgehen und das hätte ich dann möglicherweise verschwiegen.

Stufe 1: Wenn der innere Zug langsamer fährt

Meine persönliche Situation ist der der Deutschen Bahn gar nicht mal so unähnlich. Wenn man über viele Jahre gut funktioniert, im Laufe der Zeit dann immer weniger unternimmt, weniger investiert, häufiger mal stehen bleibt und lieber die Landschaft genießt, wird es schwer, irgendwann wieder 100% in die Gänge zu kommen. Über manche Zugstrecken ist Gras gewachsen, manche Gleise sind gar nicht mehr befahrbar.

Mit den Jahren kommt man dann an einen Punkt, wo man mit den Menschen, die etwas von einem wollen, nicht mehr so recht zusammenkommt. Sie wollen Dinge von einem, die man nicht mehr liefern kann oder will. Man lebt ein wenig in seiner eigenen Welt, die sich deutlich langsamer dreht als die der anderen. Man möchte mehr genießen, mehr Ruhe und Frieden; und merkt, dass es in unserer Gesellschaft oft schwierig ist, sich diese wichtigen Bedürfnissen zu erfüllen.

Aussteigen und Freiheit leben - Reiseblog Bravebird
Zeit, Natur, Ruhe und Harmonie bekommen eine ganz neue Bedeutung

Während die Technik meines metaphorischen Zuges, die einst mit 200%-iger Zuverlässigkeit arbeitete, im Laufe der Zeit etwas Rost angesetzt hat, ist mein innerer Schaffner weiterhin ständig in Aufruhr. So habe ich selbst nach so langer Zeit immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn ich an einem Wochentag nicht spätestens um 10 Uhr am Schreibtisch sitze, obwohl ich beispielsweise das ganze Wochenende oder abends gearbeitet habe. Er hängt in seinen alten, konditionierten Mustern fest.

Stufe 2: Die Mammutaufgabe der Entkonditionierung

Von klein auf lernen wir, Verhaltensweisen als richtig oder falsch zu bewerten, basierend auf den Reaktionen unserer Eltern. Wir entwickeln ein moralisches Verständnis, das unsere Werte und Entscheidungen prägt. In der Jugend erfahren wir, dass es wichtig ist, gesellschaftlichen Normen zu entsprechen und bestenfalls ein Studium abzuschließen, um erfolgreich zu sein. Werbung und Medien vermitteln uns, dass Glück durch Konsum gesteigert werden kann, was unser Kaufverhalten beeinflusst.

Diese alltäglichen Lektionen und Erfahrungen prägen Verhaltensweisen und Denkmuster, die sich über die Jahre hinweg tief einbrennen und unglaublich schwer zu ändern sind. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Asienurlaub mit 21, als ich insgeheim mitleidig über meinen Tauchlehrer dachte, dass er „nur“ Tauchlehrer war. Heute denke ich: Er war jeden Tag an der frischen Luft in einer wunderschönen Umgebung und tat das, was ihm am meisten Freude machte – und konnte davon leben. Was will man mehr?

Der Käfig bietet gewisse Sicherheiten. Im Käfig muss sich der Papagei keine Sorgen über sein Futter machen oder über Feinde, im Käfig muss er sich überhaupt keine Sorgen machen. Wenn man im Käfig lebt, ist der Besitzer verantwortlich. Der Käfig ist bequem, er ist golden.

– Aus dem Buch „Freiheit“ von Osho

Sich von allem zu lösen, was einen all die Jahre in Deutschland fest im Griff hatte, ist ein riesiger Schritt. Man muss sämtliche Zweifel und Ängste über Bord werfen, voller Zuversicht in die Zukunft blicken, sich von seinem Statusdenken verabschieden, mit Geld umgehen können, sich ganz bewusst auf Neues einlassen wollen, viel ausprobieren und scheitern lernen. Und bereit sein, sich mit seinen eigenen Schatten und Problemen auseinanderzusetzen. Freiheit hat ihren Preis!

Stufe 3: Die steinige Suche nach dem „Was will ich eigentlich?“

Wenn das anfängliche Abenteuer, das Aufregende und Neue nach einer gewissen Eingewöhnungszeit beginnt, sich in einen alltäglichen Zustand zu verwandeln, meldet sich der innere Schaffner mit den verinnerlichten Konditionierungen zurück: Wer bist du ohne feste Arbeit? Warum bist du so anders? Du musst mehr leisten! Arbeit muss keinen Spaß machen! Warum kommst du nicht vorwärts?

Eigentlich war ich doch vorher nicht wirklich glücklich, und jetzt sollte alles besser sein! Nun aber tauchten ständig neue Fragen auf. Ich wühlte mich durch Wissenschaft, Philosophie, Psychologie, Spiritualität und Esoterik. Mit jeder neuen Einsicht und sinnvollen Veränderung musste ich eine alte Tür schließen, eine neue öffnen und mich an die neuen Räume gewöhnen. Egal, wie viel Zeit man hat – das ist unfassbar anstrengend.

Manchmal sind die Fesseln, die uns am meisten einschränken, die, die wir uns selbst auferlegen.

– unbekannt

Je mehr man sich auf dieses Lebensmodell einlässt und ein Leben außerhalb des früheren Käfigs eingerichtet hat, desto mehr müssen die Dinge einen Sinn ergeben. Gleichzeitig kommt man zu dem Schluss, dass es ohne eine gewisse Struktur und zumindest einige Pläne und Ziele nicht geht. Aber einfach nur etwas zu tun, das keinen größeren Sinn ergibt, nur um damit Geld zu verdienen, wird plötzlich undenkbar. Und so dreht man sich permanent im Kreis, statt weiterzukommen.

Stufe 4: Weniger Verstand, mehr Bauchgefühl

Wie wäre es bei einem Hamster, der einen Großteil seines Lebens im allseits bekannten Hamsterrad verbracht hat, wenn man ihn in die Freiheit entließe? Wahrscheinlich würde er nicht chaotisch umherlaufen, sondern zunächst seine Umgebung erkunden und sich langsam an die neuen Bedingungen anpassen. Seine natürlichen Instinkte würden ihm helfen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.

In einer von Rationalität geprägten Gesellschaft wird die Intuition oft vernachlässigt. Schon früh lernen wir, dass beruflicher Fortschritt durch klare Abläufe erreicht wird. Unser Bildungssystem betont analytisches Denken und das Befolgen vorgegebener Wege, weshalb wir selten ermutigt werden, auf unsere innere Stimme oder unser Bauchgefühl zu hören. Diese Tendenz verstärkt sich heute weiter, da wir uns zunehmend auf digitale Hilfsmittel und Algorithmen verlassen.

Neben der ersten schwierigen Aufgabe, sich von alten Konditionierungen und Glaubenssätzen zu lösen, gilt es, seine Intuition zu aktivieren, um die eigene Persönlichkeit freilegen zu können. Genau genommen habe ich eigentlich seit meiner Kindheit das Gefühl, nicht am für mich richtigen Ort zu leben, aber ich kenne diesen anderen, passenden Ort noch nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn suchen möchte und dafür muss ich meiner Intuition alle Mittel zur Entfaltung zur Verfügung stellen.

Camping Bravebird Ute Kranz
Mein VW Bus damals: Abenteuer und Nostalgie ja, aber mehr als ein paar Wochen waren undenkbar

Stufe 5: Geld, dein permanenter Begleiter

Geld ist bei diesem Lebensweg elementar und immer präsent; zumindest, sofern man nicht durch Erbe oder Scheidung ausgesorgt hat. Ich erinnere mich noch daran, wie ich in meinem viel gelesenen Artikel Aussteigen, aber was ist mit dem Geld? davon schwärmte, zukünftig mehr Zeit zu haben, um mich intensiv um meine Versicherungen, die besten Mobilfunk-Tarife etc. zu kümmern, um unnötige Mehrkosten zu sparen – und dadurch weniger arbeiten zu müssen.

Diese Denkweise hat sich jedoch, wie sich schnell herausstellte, als illusorisch erwiesen. Die Realität sah anders aus: Zähe, nervige und zeitraubende Schriftwechsel, teils wochen- bis monatelang. Retrospektiv wäre es besser und effizienter gewesen, diese Aufgaben zu delegieren und meine Energie lieber in die Dinge zu stecken, die meinem beruflichen Kern entsprechen. Das Buch „Rich Dad Poor Dad“ ist hier ein hilfreicher Wegweiser.

Beim Verlassen der gewohnten Strukturen werden die bisherigen Vorstellungen von Geld, Beruf, Berufung und Konsum wie Karten neu gemischt. Als Selbstständige:r ist der Druck, in Deutschland genug Geld zu verdienen, um allein die hohen Lebenshaltungskosten von mehreren Tausend Euro zu decken, extrem hoch. Auch wenn ich einen Beruf habe, der sich nie wie Arbeit anfühlt, erschwert dieser finanzielle Druck erheblich eine Lebensgestaltung, die sowohl erfüllende Arbeit als auch erholsame Freizeit umfasst.

Der Weg, den man nicht geht, ist der sicherste Weg, um nie zu wissen, wie weit man hätte kommen können.

Freiheit heißt, sich entscheiden zu müssen

Die letzten zehn Jahre haben mir gezeigt, wie herausfordernd es vor allem mental ist, neue Wege zu gehen. Die kontinuierlichen Entscheidungen und Veränderungen erfordern nicht nur viel Anpassungsbereitschaft, sondern beeinflussen auch das private Umfeld, da sich Sichtweisen und Perspektiven ständig ändern können. Dieser Weg ist anspruchsvoll, aber er lohnt sich. Oft fühlt es sich an, als würde man innere Schichten abtragen, um dem eigentlichen Kern näherzukommen.

Ich erkenne zum Beispiel zunehmend, dass technologischer Fortschritt für mein Leben an Bedeutung verliert. Stattdessen schätze ich eine intensive Nähe zur Natur, gesunde Ernährung, eine schöne Umgebung und ein harmonisches Miteinander. Der Wunsch, meiner Intuition zu folgen, gestaltet sich in der heutigen, lauten Welt besonders schwierig. Vor allem körperliche Signale zeigen mir, dass Deutschland nicht mehr der richtige Ort für mich ist.

Nach zwei gescheiterten Versuchen des Lebens in der Ferne habe ich erkannt, wie wichtig es ist, eigene vier Wände in meinem Herkunftsort Köln zu haben und zu behalten. Daher verfolge ich für die Zukunft die Vision: größtenteils an einem anderen Ort zu leben, um die Balance, die Natur, die Ruhe und die Kreativität zu finden, die ich suche und brauche. Durch diese Veränderung wird sich auch der Blog nochmals neu orientieren. Wie die vergangene Zeit gezeigt hat, braucht all diese Veränderung Zeit. Ich freue mich darauf!

Die schwierigsten Wege führen oft zu den schönsten Zielen.

– Unbekannt

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Geschrieben von
Ute Kranz

Als Gründerin dieses Online-Magazins teile ich seit 2013 meine Begeisterung fürs Reisen und eine bewusste Lebensgestaltung. Seit einigen Jahren beschäftige ich mich zudem verstärkt mit gesellschaftlich relevanten Themen.

4 Kommentare

  • Hallo Ute, vielen Dank für deine wieder mal so ehrliche Reflexion deiner letzten 10 Jahre. Die meisten Aspekte kann ich genau so nachvollziehen, auch wenn es bei mir erst knapp 4 Jahre sind, als ich aus dem goldenen Käfig gesprungen bin. Bereut habe ich meine Entscheidung noch keinen Augenblick. Die Gefühlsachterbahnen, getriggert meist durch meine Umwelt, haben allerdings auch zugenommen. Ein Grund sehe ich darin, dass ich einfach mehr aufnehme und mehr an mich heranlasse, was teilweise sehr anstrengend sein kann. Mich kostet es immer wieder Kraft dazu zu stehen, dass ich einen anderen Weg gewählt habe und der Status „Wichtig im Berufsleben“ mich nicht mehr schützt. Aber die Momente in denen ich das Leben aufsauge und einfach dankbar bin so ein Leben führen zu können, gleichen das mehr als aus. Als Jugendlicher hat mich das Buch „Die Entdeckung der Langsamkeit“ fasziniert, habe dann allerdings die nächsten gut 30 Jahre eher das Gegenteil gelebt…alles zu seiner Zeit;).
    Ich freue mich schon auf dein Fazit der nächsten x Jahre;).
    Liebe Grüße, Rainer

  • Toller Text und total interessant zu lesen! Es fällt einem wirklich nicht auf, was man alles als „normal“ erachtet, das vielleicht gar nicht so normal ist. Man ist es eben nur gewöhnt. Danke für diese immer spannenden und ehrlichen Einblicke, die heute alles andere als normal sind. An dieser Stelle Danke dafür <3 Liebe Grüße, Jule

  • Liebe Ute,
    deine Seite und deinen Instagram-Kanal habe ich heute auf dem Weg gefunden, dass ich ganz banal ergoogeln wollte, ob es eigentlich noch Reiseblogger:innen gibt. ;)
    In den Überlegungen, die du teilst, finde ich mich an vielen Stellen wieder, vor allem bezüglich Social Media und eben auch hier in deinen Stufen der Entwicklung.
    Ich war selber lange sehr aktiv auf Instagram, fühle mich mit dem neuen Tempo und der so viel höheren Lautstärke, zwischen Werbung und Videos nicht mehr wohl. Und so tüftle ich gerade an meiner Rückkehr zur eigenen Plattform und habe mich vielleicht ein bisschen ins Newsletter-Schreiben verliebt.
    Vor allem aber freue ich mich, durch den veränderten Fokus, wieder mehr sensible Seelen in den Weiten des Internets zu finden.
    Wilde Grüße aus dem Schwarzwald,
    Nadine
    P.S. Ich habe mehrfach versucht, deinen Newsletter zu aktivieren – bekomme aber keine Mail zur Bestätigung.

    • Liebe Nadine,
      vielen Dank für deine lieben Worte und dass du dir die Zeit genommen hast, sie hier zu teilen! <3 Was du über das Unwohlsein auf Instagram und das neue Tempo schreibst, hat mich wirklich berührt, denn genau diese Themen beschäftigen mich auch seit Jahren. Ich selbst habe mich aktuell sehr in das Schreiben meines Buches vertieft, um dort sozusagen in eine andere Welt abzutauchen, die mir gerade mehr entspricht. Es hilft mir, zur Ruhe zu kommen, auch wenn ich immer wieder merke, wie schwer es ist, mit dem Außen Schritt zu halten, wenn es nicht mehr so recht zum Inneren passt – genau wie du es so treffend beschreibst. Ich plane dazu auch bald einen Artikel, in dem ich noch mehr darüber teile.

      Zum Newsletter: Ich habe es eben selbst getestet und bei mir hat es sofort funktioniert, daher kann ich mir das Problem leider nicht erklären. Deshalb habe ich mir erlaubt, dich manuell hinzuzufügen. Du solltest nun die nächste Ausgabe automatisch erhalten. Falls es dennoch Probleme geben sollte, melde dich einfach, ich schaue dann nochmal nach :)

      Es klingt schön, dass du das Newsletter-Schreiben für dich entdeckt hast – das klingt wundervoll und ist ein so schöner, ruhiger Raum, um sich mit Menschen auszutauschen.

      Wilde Grüße zurück in den Schwarzwald,
      Ute

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