Lange Zeit war ich der Überzeugung, dass Massentourismus etwas grundlegend Negatives ist. Nicht nur, weil ich selbst große Menschenmengen extrem unangenehm finde, sondern auch, weil ich die ökologischen und sozialen Folgen des übermäßigen Tourismus in vielen Regionen sehr kritisch sehe. Vor einigen Jahren war ich dann als Speakerin Teil einer Diskussionsrunde an der Leuphana Universität, zusammen mit einem Professor für nachhaltigen Tourismus und einer Expertin für Gemeinwohl.
Beide waren sich einig in ihrer Ansicht, dass man Massentourismus durchaus als etwas Positives sehen könne. So würden wenigstens nur bestimmte Städte und Regionen „plattgetreten“ und der Rest der Erde weitgehend verschont. Eine Perspektive, die mir bis dahin fremd war. Ich hingegen vertrat die Ansicht, dass eine gerechtere Verteilung von Reisenden die einzig richtige Antwort sei. Die Sichtweise der beiden hat mich jedoch seit dieser Diskussion nicht mehr losgelassen, und ich dachte mir, ich setze mich damit einmal kritisch auseinander.
1. Warum sich das Phänomen Massentourismus nicht mehr ändern wird
Der Massentourismus ist eine Realität, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte fest etabliert hat und die sich auch in Zukunft nicht mehr zurückentwickeln wird. Hier sind einige der wichtigsten Faktoren, die dazu beitragen:
Neue Reiseanforderungen: Alter und Gewicht
Durch den demografischen Wandel ist die Zahl älterer Menschen, die weiterhin reisen möchten, in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen – sie machen mittlerweile etwa 25 % der Weltbevölkerung aus. Gleichzeitig wächst weltweit auch die Anzahl mehrgewichtiger Menschen, was kontinuierlich neue Anforderungen an die Tourismusbranche stellt. Viele Reisende sind daher heute auf barrierefreie und komfortable Angebote angewiesen, um sicher und stressfrei reisen zu können.
Vor allem ältere Menschen und Personen mit Mobilitätseinschränkungen oder höherem Körpergewicht benötigen spezielle Vorkehrungen und Annehmlichkeiten, um uneingeschränkt reisen zu können. All-inclusive-Pauschalreisen und Kreuzfahrten bieten zum Beispiel genau diesen Komfort und die notwendige Zugänglichkeit, wodurch sie sich fest im Massentourismus etabliert haben. Aufgrund des wachsenden Bedarfs dieser Zielgruppen wird diese Art des Reisens auch zukünftig eine zentrale Rolle spielen.

Neue Welten entdecken: Eskapismus
Viele Menschen reisen heute, um dem Alltag zu entfliehen und etwas völlig Neues zu erleben. Die Faszination für exotische Reiseziele wie Bali, Dubai, Venedig oder Kreuzfahrten resultiert oft daraus, dass diese Orte eine „andere Welt“ versprechen – eine Welt, die sich künstlich inszeniert, um den Erwartungen der Touristen gerecht zu werden. Gerade weil diese Orte oft stark auf ihre Besucher abgestimmt und kommerzialisiert sind, üben sie eine besondere Anziehungskraft aus. Der Wunsch nach Eskapismus und das Eintauchen in eine künstlich geschaffene Erlebniswelt, die es ermöglicht, die Normalität des Alltags hinter sich zu lassen, wird sich zukünftig ohne jeden Zweifel weiter verstärken.
Beliebte Ziele: Viele Menschen, günstige Preise
Ein Grund, warum sich der Massentourismus so fest etabliert hat, sind natürlich auch die erschwinglichen Preise, die viele Reiseziele bieten. Die günstigen Angebote entstehen, weil so viele Menschen zu denselben Orten reisen. Je mehr Touristen ein Ort anzieht, desto mehr können Fluggesellschaften, Hotels und Reiseveranstalter ihre Kosten auf eine große Anzahl verteilen, wodurch die Preise für den Einzelnen sinken. Große Reiseveranstalter erzielen durch den Kauf großer Kontingente an Flugtickets und Hotelzimmern günstigere Preise, die sie an ihre Kunden weitergeben. Diese ganze Dynamik sorgt dafür, dass Massentourismus auch in Zukunft erschwinglich bleibt.
Neue Reisebedürfnisse: FOMO und Social-Media
Die Generation Social Media reist heute aus ganz anderen Gründen als frühere Generationen. Für viele steht nicht mehr der kulturelle Austausch im Vordergrund, sondern das Sammeln von Eindrücken und die Dokumentation ihrer Erlebnisse für ihre Social-Media-Profile. Bekannte Hotspots und Sehenswürdigkeiten sind besonders beliebt, da sie sich gut für Fotos und Videos eignen, die online geteilt werden können. Das Bedürfnis, an angesagten Orten gewesen zu sein und die eigene Präsenz online zu inszenieren, führt zu einer stärkeren Konzentration auf bestimmte Destinationen. Diese Dynamik wird sich in Zukunft weiter verstärken, da FOMO („Fear of Missing Out“) und die Selbstinszenierung fester Bestandteil des modernen Reiseverhaltens sind.

Mehr Reisende: Wachsende Mittelschichten weltweit
Die wirtschaftliche Entwicklung in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen aus diesen Regionen sich Reisen leisten können, die zuvor unerschwinglich waren. Mit dem Wachstum der globalen Mittelschicht steigt auch die Nachfrage nach internationalen Reisen und Urlaubserlebnissen. Diese „neuen“ Reisenden verstärken den Massentourismus weiter, da sie vor allem bekannte und stark beworbene Reiseziele ansteuern, die sich bereits als Hotspots etabliert haben.
2. Was dem Massentourismus Positives abzugewinnen ist
Wenn man sich der Tatsache bewusst ist, dass Massentourismus ein fester Bestandteil unserer Realität ist und sich auch in Zukunft nicht zurückentwickeln wird, kann man versuchen, das Positive darin zu sehen. Es gibt durchaus Aspekte, die trotz der bekannten negativen Folgen als Chancen betrachtet werden können:
Erhalt bestimmter Kulturen
Eine positive Folge des Massentourismus ist, dass einige Kulturen oder Regionen, die abseits von touristischen Hotspots liegen, bewahrt bleiben könnten. Da sich die großen Touristenströme auf bekannte Ziele konzentrieren, gibt es gleichzeitig Gebiete, die sich fernab dieser Massen entwickeln und ihre kulturelle Identität erhalten können. Dies ist eine Chance für Regionen, die nicht im Fokus des Tourismus stehen und dadurch weniger Druck erfahren, ihre Traditionen und Lebensweise anzupassen.
Professionalisierung der Massentourismusziele
Klassische Reiseziele, die sich als Hotspots etabliert haben, können sich weiter professionalisieren und besser auf die vielfältigen Bedürfnisse der Besucher einstellen. Diese Destinationen sind (bzw. wären) in der Lage, ihre Infrastruktur auszubauen, spezielle Angebote für unterschiedliche Reisende zu entwickeln und auf die Herausforderungen unbewusster und oft respektloser Touristen zu reagieren. Diese Weiterentwicklung ermöglicht es, die Auswirkungen des Massentourismus besser zu steuern und zu regulieren.

Touristenabgaben zur Deckung von Schäden
Durch den Einsatz von Touristenabgaben und -steuern können beliebte Reiseziele die Schäden, die durch die Besucherströme entstehen, zumindest teilweise abdecken. Diese Einnahmen fließen dann bestenfalls in den Erhalt und die Pflege der Infrastruktur und der Umwelt. Auf diese Weise können die Kosten für den Tourismus auf die Besucher umgelegt werden, was es Destinationen ermöglicht, nachhaltiger und verantwortungsbewusster zu agieren, ohne ausschließlich auf lokale Mittel angewiesen zu sein.
Wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsplätze
Massentourismus trägt in vielen Ländern zur wirtschaftlichen Entwicklung bei und schafft Millionen von Arbeitsplätzen; insbesondere in Regionen, die ansonsten begrenzte wirtschaftliche Möglichkeiten hätten. Hotels, Restaurants, Tourenanbieter und viele andere Dienstleistungen profitieren direkt von den Touristenströmen, und auch indirekte Bereiche wie Transport und Handwerk werden belebt. Für einige Länder ist der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle und bietet vielen Menschen, besonders in wirtschaftlich schwächeren Regionen, eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Kultureller Austausch und Verständnis
Auch wenn der Massentourismus oft auf schnelle und oberflächliche Erlebnisse ausgelegt ist, bietet er dennoch Gelegenheiten für kulturellen Austausch und ein besseres Verständnis. Wenn Reisende Interesse an der lokalen Kultur und den Menschen zeigen, kann dies dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und ein positives Bild ihrer eigenen Kultur zu hinterlassen. Solche Begegnungen – selbst wenn sie nur flüchtig sind – können das Bewusstsein für kulturelle Vielfalt stärken und gegenseitige Toleranz fördern; etwas, das wir heute mehr denn je brauchen.

Förderung von Naturschutzmaßnahmen
Einnahmen aus dem Massentourismus können zur Finanzierung von Naturschutzprojekten beitragen. Bestimmte Destinationen, wie z. B. der Maasai Mara Nationalpark in Kenia oder das Great Barrier Reef in Australien, erheben Umweltschutzgebühren und setzen einen Teil der Tourismuseinnahmen gezielt für den Schutz der Natur ein. Nationalparks, geschützte Küstengebiete und andere touristische Attraktionen können durch die Einnahmen gepflegt und geschützt werden. Dies bietet eine Möglichkeit, Natur und Tierwelt langfristig zu erhalten, auch wenn der Tourismus in diesen Gebieten stattfindet.
Fazit: Ein realistischer Blick auf die Zukunft
Die Frage, ob Massentourismus wirklich so schlimm ist, lässt sich meiner Meinung nach nicht pauschal beantworten. Die Entwicklung ist durchaus besorgniserregend, besonders wenn man an die ökologischen und sozialen Auswirkungen denkt, die viele überlaufene Orte und Einheimische belasten. Der Massentourismus bringt zweifellos vielfältige Herausforderungen mit sich, die (eigentlich) nicht ignoriert werden sollten.
Angesichts der Tatsache, dass sich diese Entwicklung wie beschrieben nicht mehr zurückdrehen lässt, lohnt es sich, auf das Potenzial der möglichen positiven Entwicklungen zu schauen. Wenn wir bestimmte Hotspots bewusst als touristische Zonen gestalten würden, könnten andere, empfindlichere Regionen gezielt geschützt werden. Das wäre ein Weg, ein Gleichgewicht zwischen touristischer Nutzung und dem Erhalt von Kulturen und Ökosystemen zu schaffen.
Für mich selbst wird es in Zukunft auch wieder Phasen geben, in denen ich mehr reise. Ich freue mich schon besonders auf die Länder, die noch stark ihre eigene Kultur leben und nicht vom Massentourismus geprägt sind. Aber ich habe für mich auch entschieden, dass ich diese Erlebnisse nicht auf diesem Blog teilen werde, um die Authentizität dieser Orte zu schützen. Denn auch Plattformen wie diese beeinflussen, wohin Menschen reisen, und tragen dazu bei, dass unberührte und authentische Orte entdeckt und überlaufen werden.
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Total interessanter Beitrag. Was ich mich jetzt nur frage: bist du selbst nun für oder gegen Massentourismus??